INTERVIEW Anne Brorhilker war Oberstaatsanwältin im Cum-Ex-Skandal. Im April warf sie hin. Nun kämpft sie bei „Finanzwende“ für eine gerechtere Politik.
Durch gezielten Steuerbetrug gehen regelmäßig Milliardensummen an den Keschern des Staates vorbei. Anne Brorhilker nennt dies ein „ein zentrales Gerechtigkeitsproblem“.
von Alexander Jungkunz, Nürnberger Nachrichten vom 11. September 2024, Veröffentlichung gestattet von Alexander Jungkunz.
Ich bedanke mich für dieses gelungene Interview. Leider die Realität, als Steuerberater kann ich dem nur zustimmen.
Friedrich Burmann
BERLIN – Es war eine spektakuläre Kündigung: Anne Brorhilker war als Oberstaatsanwältin für die juristische Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals zuständig. Im April schmiss sie dann hin. Nun engagiert sie sich bei „Finanzwende“. Im Interview mit unserem Medienhaus erklärt sie, warum.
Frau Brorhilker, wann haben Sie das erste Mal von Cum-Ex-Geschäften gehört? Das war 2013, als ich meinen ersten Fall bekommen habe.
Und mussten sich selbst erst einmal einarbeiten… Ja, die Kollegen vom Bundeszentralamt für Steuern, die mit den Erstattungs-Anträgen befasst waren, haben mir das präsentiert. Das rauschte dann erst mal wie so ein D-Zug an mir vorbei. Sehr technisch, zunächst habe ich wenig verstanden. Abends schaute ich mir das am Küchentisch genauer an. Und merkte: Das läuft ja genau so wie die schon bekannten Umsatzsteuer-Karusselle. Da war mir klar: Das ist ja das Gleiche, nur mit Aktien statt mit Waren – deshalb kann das nicht in Ordnung sein.
Können Sie knapp erklären, wie ein Cum-Ex-Geschäft funktioniert? Das sind Aktiengeschäfte, bei denen es nicht um Handel als solchen geht, sondern nur darum, eine unberechtigte Steuererstattung auf den Weg zu bringen. Bei Cum-Ex geht es darum, sich Steuern rückerstatten zu lassen, die man gar nicht gezahlt hat. Bei Cum-Cum darum, einer Steuerpflicht zu entgehen, die man eigentlich hat. Einmal nimmt man etwas raus, einmal zahlt man gar nicht ein.
„Es war schwer, den Betrug zu erkennen“
Das geht so einfach? Wenn man als Börsenhändler weiß, wie man Aktien bewegt, dann ist das nicht schwer. Es war für Behörden aber sehr schwer, das zu erkennen – weil da keine Börsenhändler sitzen.
Und viele wussten: Das gibt es – aber es wurde nicht versucht, das zu unterbinden... Ich nehme an, zunächst wurde der Umfang des Schadens massiv unterschätzt. Was auch am Erfolg der massiven Lobby-Arbeit der Finanzbranche liegt. Es gelang ihr, das Thema total zu verharmlosen und als Randproblem abzutun.
Wie hoch ist der Schaden, der entstanden ist? Ganz genau weiß man es nicht, es sind Schätzungen, die gehen davon aus, dass durch Cum-Ex und Cum-Cum etwa 40 Milliarden Schaden entstand. Etwa zehn Milliarden durch Cum-Ex, circa 30 Milliarden durch Cum-Cum.
Und wer waren die Übeltäter? Am Anfang nahm man an, dass es eine kleine Gruppe schwarzer Schafe ist. Aber der Eindruck änderte sich im Laufe der Ermittlungen deutlich. Da zeigte sich: Das hat industriellen Charakter und trifft die ganz Branche. Das war eine regelmäßige Einnahmequelle großer Investmentbanken. Die hatten in ihren Organigrammen dafür sogar extra Bereiche. Da stand natürlich nicht „Steuerhinterziehung“, sondern „Delta-One-Geschäft“ oder so.
Sie haben sich als Staatsanwältin in die Materie hinein gekniet, jahrelang an dem Fall gearbeitet – und dann vor einigen Wochen hingeschmissen. Warum? Ich habe schnell gemerkt, wie schwierig es ist, ausreichend Unterstützung für die Ermittlungen zu bekommen, die ganze Zeit hinweg. Da ging es vielen Kolleginnen und Kollegen ähnlich. Deswegen dachte ich, es komme darauf an, die Rahmenbedingungen zu verändern – sonst kommt man nicht voran. Ich wollte weg von der Einzelfallbearbeitung und hin zu einer Veränderung der Strukturen. Aber das kann man nicht als Staatsanwalt machen, da hat man Loyalitätspflichten und darf sich nicht politisch betätigen. Deswegen änderte ich meine Strategie, um das gleiche Ziel zu erreichen: die Bekämpfung der Finanzkriminalität, die ich für ein zentrales Gerechtigkeitsproblem halte.
zur Person:
Anne Brorhilker (51) war bis April in Köln Leiterin der Hauptabteilung für die Ermittlungen im Steuerskandal Cum-Ex. Dann gab die Juristin ihren Posten auf – eine aufsehenerregende Personalie. Denn Brorhilker wurde Geschäftsführerin bei der Nicht-Regierungs-Organisation „Finanzwende“. Ihre Begründung: „Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird.“
Wie sehen Sie die Rolle von Olaf Scholz und sein Schweigen, seine Erinnerungslücken? Das ist vermutlich ein Beispiel dafür, dass die Nähe zwischen Politik und Banken zu groß ist. Die scheint im Hamburger Fall besonders groß zu sein. Gegen Erinnerungslücken ist juristisch schwer anzukommen. Daher ist diese Argumentation juristisch schlau. Allerdings finde ich es verheerend für das Bild, das hier ein ganz zentrales Organ des Staates abgibt. Wenn da eine derart bedeutende staatliche Stelle solche juristischen Winkelzüge verwendet, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn viele das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen verlieren.
„Finanzwende“ geht es insgesamt um mehr Steuergerechtigkeit. Ein Beispiel, das immer wieder genannt wird, sind die Betriebsprüfungen: Viel zu selten finden die statt, sagen Kritiker. Dabei spielen die Prüfer mit ihren Ergebnissen das Geld locker wieder ein, das sie kosten. Das gehört auch zur Bekämpfung der Macht der Finanzlobby, dass alle Aufsichtsbehörden – also auch die Betriebsprüfung – so gestärkt werden, dass sie ihre Aufgaben wirklich erfüllen können. Wenn zur Prüfung einer internationalen Großbank nur ein oder maximal zwei Prüfer für eine ganz kurze Zeit eingesetzt werden – dann ist eine ernsthafte Prüfung kaum möglich. Auf der anderen Seite werden Imbissbuden oder ähnliche Kleinbetriebe viel strenger geprüft. Wenn da festgestellt wird, dass die Kasse nicht stimmt, dann nimmt der Prüfer den Kassenautomaten mit und wertet ihn aus. Das kann man bei den Banken gar nicht, weil die ihre Daten regelmäßig ins Ausland verlagert haben. Wenn der Staat hier nicht darauf drängt, dass die Banken ihre Geschäftsunterlagen im Inland aufbewahren müssen, dann ist er schnell ziemlich hilflos. Wenn der Staat sich hier nicht mehr bemüht, Kontrolle zurückzuerlangen, dann muss er sich über Vertrauensverlust nicht wundern.
„Hinterziehung gilt als Kavaliersdelikt“
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen – das ist also tatsächlich so. Ja, das stimmt häufig in diesem Bereich. Weil der Staat sich im Bereich der Finanzkriminalität zu wenig engagiert. Dabei wäre es mehr als rational für ihn, da zu investieren – er kann und muss sich die zu Unrecht erstatteten Steuergelder wieder zurückholen.
Aber übers Bürgergeld wird heftig debattiert. Dabei geht es da doch um viel geringere Summen als beim Steuerbetrug. Auch das ist nicht rational. Durch Steuerhinterziehung entstehen viel größere Schäden. Schätzungen gehen von etwa 50 Milliarden pro Jahr aus. Sozialhilfebetrug liegt bei etwa 360 Millionen – eine viel kleinere Summe, aber darüber wird viel mehr debattiert als über die riesigen Beträge an Steuergeldern, die uns da entgehen. Da hat die Finanzlobby offensichtlich ganze Arbeit geleistet.
Ist Steuerhinterziehung schick – nạch dem Motto: Ich hab’s denen mal gezeigt? Das ist auch das Ergebnis geschickter Lobbyarbeit und PR: dass Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt gilt. Der Normalbürger hat ja kaum Möglichkeiten, Steuern zu hinterziehen – das können vor allem Gutverdiener und Unternehmen. Wer da Steuern hinterzieht, greift in die Kassen der Allgemeinheit, handelt also de facto asozial. Wenn das plötzlich nur als kleiner Trick bezeichnet wird, ist dies das Ergebnis einer Umetikettierung: Man verharmlost und verniedlicht den Griff in unser aller Portemonnaie.
Und das macht die Finanzlobby… Wer ist das eigentlich? Unternehmen, Verbande, Banken und ihre Lobbyisten. Mittlerweile existiert ja ein Lobbyregister, und da zeigt sich: Die Finanzlobby ist der größte Lobbyakteur noch vor der Automobil- und der Pharmaindustrie, das hat mich schon überrascht.
Dazu gehört dann das „Betreuen“ von Abgeordneten etc.? Ja, das sind typische Lobby-Tätigkeiten, die im Register gemeldet werden müssen. Aber Lobbyarbeit geht in der Praxis weit über den parlamentarischen Betrieb hinaus, zum Beispiel auch in Richtung Verwaltung. Da lädt man Mitarbeiter ein, umgarnt sie. Und Mitarbeiter der Verwaltung sind oft nicht besonders selbstbewusst. Sie halten sich oft für unterbezahlt im Vergleich zu Menschen aus der Wirtschaft. Sie haben häufig wenig Aufstiegschancen, das Prestige des öffentlichen Dienstes ist gering, die Ausstattung der Buros ist schlecht – das sorgt für Frust. Und das macht empfänglich für Beeinflussung.